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Titel
Soziale Ungleichheit und Hitler-Jugend. Zur Systematisierung sozialer Differenz in der nationalsozialistischen Jugendorganisation


Autor(en)
Benecke, Jakob
Erschienen
Weinheim 2023: Beltz Juventa
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Gisela Miller-Kipp, Institut für Sozialwissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Von den Machtapparaten des „Dritten Reiches“ bleibt hierzulande insbesondere die Hitler-Jugend auf der historischen und auf der historiographischen Tagesordnung; dabei meint „Hitler-Jugend“ (HJ) wie hier vorliegend sowohl die herrschaftspolitische Institution mit der „Reichsjugendführung“ an ihrer Spitze als auch das in ihr und von ihr organisierte Jugendkollektiv (gemeinhin „Hitlerjugend“); sie ist institutionsgeschichtlich weitgehend ausgeschrieben, dokumentiert und bekannt1, sozial- und jugendgeschichtlich jedoch von anhaltendem Interesse. Das belegt auch die in diesem Frühjahr erschienene zweite Auflage des angezeigten Bandes von Jakob Benecke. Sein besonderer Zugriff liegt im Schnittpunkt von Institutions-, Sozial- und Jugendgeschichte – er gilt der Produktion sozialer Ungleichheit in der und durch die HJ. Das weckt auf Anhieb Neugier, war die HJ als Staatsjugendorganisation des „Dritten Reiches“ einer der Großagenten der Inszenierung und praktischen Realisierung der Kollektivpropaganda „ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Überdies war die HJ als „Gliederung“ der NSDAP zur „Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ gesetzlich verpflichtet.2 Wie entsteht da und woher kommt da „soziale Ungleichheit“?

Diesen beiden Fragen geht Benecke in insgesamt fünf unterschiedlich ansetzenden und unterschiedlich ausführlichen Kapiteln nach; er stützt sich dabei auf reiches Quellenmaterial: auf staatliche und private Dokumente, auf Reden, Verlautbarungen, Programme und Erinnerungen, auf private Fotos wie auf bekannte Propagandabilder; ein schmaler Teil davon, 34 Stück, ist im Band wiedergegeben; das sorgt für Anschaulichkeit. – Die jetzt vorgelegte zweite Auflage unterscheidet sich von der ersten durch einige faktische und begriffliche Präzisierungen, durch ein aktualisiertes „Fazit“ sowie durch ein sorgfältig aktualisiertes Literaturverzeichnis.

Einleitend (zugleich Kap. 1) befasst sich Benecke kurz mit den weithin bekannten In- und Exklusionsstrategien des NS-Regimes und weist im Blick auf die HJ darauf hin, dass deren propagandistisch verbreiteter Anspruch auf einheitliche Erfassung der deutschen Jugend post festum dadurch Realität gewann, dass die Vergemeinschaftungspraxen (in) der HJ die Erinnerung der Hitler-Jugend-Generation dominierten. Zur Herausarbeitung und zur Analyse der Agenten und Mechanismen „sozialer Differenzierung“ legt Benecke dann eine „Objektbestimmung“ aus der politischen Soziologie vor, das heißt: soziale Ungleichheit entstehe immer dort, wo der Zugang zu sozialen Gütern und Positionen dauerhaft ungleich oder eingeschränkt sei, zum dauerhaften Nachteil von Einzelnen oder von Kollektiven (S. 18). – Auf die „dynamische Ordnung“ solcher sozialen Ungleichheit unter der NS-Herrschaft macht Benecke dann in einer sehr knappen „Hinführung“ aufmerksam (Kap. 2), wobei er für sich aus Zeitabhängigkeit die Aufgabe ableitet, „sozialer Differenzierung“ in der und durch die HJ über die gesamte Zeit ihres institutionellen Bestehens nachzugehen.

Folgerichtig setzt das Hauptkapitel des Bandes unter „Soziale Ungleichheit als Element der Hitler-Jugend“ (Kap. 3) zunächst institutionsgeschichtlich ein, um „Macht (Dimension) beziehungsweise Herrschaft (Determinante)“ als „zentrale Dimension sozialer Ungleichheit im NS-System“ zu identifizieren (S. 35) – wie in einer Diktatur nicht anders zu erwarten. Interessant ist hier besonders eine Belegquelle, nämlich die Warnkartei der HJ (neun Karteikarten sind wiedergegeben), mit der sich soziale Degradierung als wirkmächtiger Faktor sozialer Differenzierung rekonstruieren lässt; sie wirkt exkludierend. Ihr ebenso wirkmächtiger Gegenpol ist die soziale Honorierung von Leistungen in der oder für die HJ-Gemeinschaft; deren Inklusionswirkung belegt Benecke vor allem mit lebensgeschichtlichen Erzählungen. Systematisch arbeitet er dabei „Zwang“, „Einfluss“, „Autorität“ und „Attraktion“ als „Ausprägungsmuster“ sozial differenzierender Machtausübung heraus (S. 35). Als Überschuss an Wissen werden in diesem ersten Teil von Kap. 3 (Kap. 3.1) zwei Referate präsentiert, eines zu Niklas Luhmann und eines zu Norbert Elias jeweils als Theoretiker sozialer Differenzierung; im Unterschied zur 1. Auflage sind diese Referate jetzt ausdrücklich als „Exkurs“ ausgewiesen, der Sache nach erforderlich sind sie nicht.

Im zweiten Teil von Kap. 3 (Kap. 3.2) handelt Benecke „Rasse (Dimension) bzw. Rassismus (Determinante)“ als zweite „zentrale Dimension sozialer Ungleichheit im NS-System“ neben „Macht“ ab; dabei begreift er, sozialbiologischer Forschung folgend, Rasse und Rassismus als „soziale Konstruktionen natürlicher Ungleichheit“ (S. 110) und trägt die gängigen Überlegungen dazu vor. Wie diese „soziale Differenzierung“ nach vermeintlich biologischer Rassezugehörigkeit in der HJ vonstatten ging, wird in vielen einzelnen Nachzeichnungen an institutionellen Vorgängen und an rassistisch exkludierenden Alltags- und Dienstpraxen (in) der HJ aufgezeigt. Interessanterweise belegen die hierzu als Quelle herangezogenen Erinnerungserzählungen neben den intendierten auch nicht-intendierte Folgen der rassistischen Praxen im Jugendkollektiv, nämlich die Abwendung von ihm. Derzeit von besonderem Interesse mögen die beiden Abschnitte sein zu: „Grauzonen der HJ-Erfassung gegenüber den Angehörigen der Hauptkategorien der exkludierenden rassistischen NS-Bevölkerungspolitik“ (S. 152) sowie „gegenüber den Angehörigen der, nach ‚erbbiologischen‘ Kriterien, mit negativer Konnotation sozial differenzierten Teile der ‚Volksgemeinschaft‘“ (S. 159) – kurz: herangezogen werden die Verfahren zur Aufnahme beziehungsweise Nicht-Aufnahme „jüdischer Mischlinge“ und „fremdvölkischer“ Jugendlicher zum einen, behinderter Jugendlicher zum anderen. Wie hier mit amtlichen Dokumenten belegt, wurde bei der Aufnahme der einen bürokratisch herumgeeiert, hingegen die Aufnahme der anderen kategorisch ausgeschlossen.

Im Kap. 4 werden „Geschlecht“, „Generation“, „Raum/Region“ und „Milieu" als bewirkende Faktoren „soziale[r] Ungleichheitsphänomene auf der Ebene der Hitler-Jugend“ vorgenommen (S. 163). Benecke zitiert hierzu die umfangreich vorliegende historische und soziologische Forschung, wobei es ihm in deren Anwendung wie im Kap. 2 wiederum darauf ankommt, die Erzeugung von sozialer Ungleichheit als dynamischen Prozess darzustellen, für dessen Verständnis die „Phasengliederung der NS-Herrschaft“ ausschlaggebend sei (S. 153) – will heißen: „Geschlecht“, „Generation“, „Raum/Region“ und „Milieu“ haben sich je nach Herrschaftslage des Regimes unterschiedlich differenzierend ausgewirkt. Im Abschnitt „Geschlecht“ (Kap. 4.1) wirft Benecke einen längeren Blick auch auf die ‚weibliche‘ Hälfte der HJ, auf den „Bund Deutscher Mädel in der Hitlerjugend“ (BDM); er war an Mitgliedern annährend gleich stark wie der ‚männliche‘ Verband, der Reichsjugendführung aber auf allen Führungsebenen institutionell unterstellt, was kein Grund dafür sein kann, den BDM bei einer Untersuchung zur Erzeugung sozialer Ungleichheit in der HJ weitgehend unberücksichtigt zu lassen. Im Abschnitt „Generation“ (Kap. 4.2) unterscheidet Benecke mit Norbert Frei3 schematisch zwei „Erfahrungsgenerationen“ der Hitler-Jugend (S. 188): die um 1905 geborene sog. „Funktionselite“ der HJ und die um 1925 (bis 1927) geborene sogenannte „Flakhelfergeneration“, die einzige, die alle acht ‚Dienstjahre‘ in der HJ durchlief. Im Abschnitt „Raum/Region“ (Kap. 4.3) meint Benecke den sozio-politischen Raum und die soziale Raumerfahrung und betrachtet hier besonders die in- und exkludierenden Wirkungen der so positiv erinnerten Hitler-Jugend-Lager. Im Abschnitt „Milieu“ (Kap. 4.4) referiert Benecke Milieuforschung, um sich damit erstens der unterschiedlichen „Sozialstrukturen der HJ-Führer und der HJ-Mitglieder“ anzunehmen (S. 210), und um zweitens milieuspezifischer Attraktion oder Ablehnung der HJ nachzugehen.

Im Fazit (Kap. 5) zieht Benecke jüngste Forschung zum Widerspruch zwischen propagandistischem Totalitätsanspruch der HJ und ihrer tatsächlichen alltagspolitischen Heterogenität heran, um wiederum festzustellen: „Letztlich hat sich gezeigt, dass einfache dichotome Differenzierungen die damaligen HJ-spezifischen Vorkommen sozialer Ungleichheit auf allen Ebenen des NS-Herrschaftsvollzuges in der Komplexität ihrer Ursachen und Ausprägungen nicht hinreichend erfassen können. Hierzu bedarf es durchweg analysierender Objektperspektiven.“ (S. 225) Solche Perspektiven hat Jakob Benecke mit systematischer Gründlichkeit und auf reicher Quellenbasis für die HJ vorgetragen und historiographisch angewandt.

Anmerkungen:
1 Jakob Benecke, Die Hitler-Jugend 1933–1945. Programmatik, Alltag, Erinnerungen. Eine Dokumentation, 2. Aufl. Weinheim 2013; Michael Buddrus, Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitler-Jugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, 2 Bde., München 2003; Gisela Miller-Kipp (Hrsg.), „Auch du gehörst dem Führer“. Die Geschichte des Bundes Deutscher Mädel (BDM) in Quellen und Dokumenten, 2. Aufl. Weinheim 2002.
2 Wie u.a. auch die SS und die SA; vgl. „Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat“, 1. Dezember 1933 (Reichsgesetzblatt 1933, S. 1016).
3 Norbert Frei, 1945 und Wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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